Portrait Ivan Lunati

Der Allesrechner

13.04.2022 | NORBERT RAABE

Beim Aufbau seiner neuen Abteilung hat die Covid-Pandemie die Arbeit von Ivan Lunati erheblich erschwert – und zugleich spannende Forschungsfragen geliefert. In Zukunft will er sich mit seinem Team weiterhin um vielfältige Themen kümmern – als leidenschaftlicher Theoretiker mit einem Faible für praktische Anwendungen.

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Ivan Lunati vor einer Tafel mit Formeln zur Verbreitung von Covid- Erregern. Der Wasserdampf vor ihm hilft bei Laborversuchen über Aerosole in Innenräumen. Bild: Empa

Die zwei Welten, in denen sich Ivan Lunati heimisch fühlt, sieht man in seinem Büro an der Wand gleich linker Hand: Fotos, auf denen er durch den Tiefschnee nahe Verbier zu Tale saust. Und gleich daneben eine weisse Tafel mit Notizen, Skizzen, Integralen, Differentialen … – eine «Denkwand», denn in Bewegung fällt ihm kreative Forscherarbeit leichter.

Knifflige Aufgaben hat der Physiker, der seit Februar 2020 eine neue Empa-Abteilung leitet, genug. Zum Beispiel die Fragen, wo und wie sich Corona-Viren verbreiten – ob in Skigondeln und Schulzimmern oder in der gesamten Schweiz und Deutschland. Die Resultate dieser Forschung lösten grosses Echo aus – und viele Medienauftritte mit Forscher Hossein Gorji aus seinem Team. Ein Thema, das den Start der neuen Abteilung gewiss erleichterte.

Ivan Lunati

Werdegang: Postdoktorat an der ETH Zürich, Institute of Fluid Dynamics, Senior Scientist an der ETH Lausanne, SNSF-Professur an der Universität Lausanne, Institut für Erdwissenschaften. Seit Februar 2020 Empa-Abteilungsleiter.

Wissenschaft: Physikstudium an der Universität Mailand, Promotion an der ETH Zürich, vielfältige Forschung in Hydromechanik, Umweltforschung, Data Science und weiteren Gebieten. Zahlreiche Publikationen und Konferenzteilnehmen, akademische Lehrtätigkeiten im In- und Ausland. Mitglied in zahlreichen Fachgremien.

Die Pandemie als Ideengeber

Doch warum gerade Covid-Szenarien, mit denen sich seit Beginn der Pandemie so viele Forschende befassen? Aus Neugierde! Lunati studierte die wissenschaftliche Literatur zur Verbreitung von Aerosolen mitsamt Viren und fand offene Fragen. «Mein Leben war so stark beeinflusst von den Masken und Hygiene- und Distanzregeln», sagte er, «ich wollte verstehen, warum meine Welt gerade zusammenbricht.» Und auch den Berufsalltag erschwerte: Home Office und andere Massnahmen machten den Aufbau der Abteilung, so Lunati, jedenfalls nicht leichter.

Mittlerweile hat sein Team Kontur gewonnen: drei erfahrene Forschende plus Postdocs, Studierende und routinierte Techniker für die künftigen Schwerpunkte der Abteilung, zu der auch ein Wasser- und ein Windkanal gehören – Grossgeräte für Experimente, mit denen sich komplexe Strömungsphänomene erkunden lassen.

Zum Beispiel auch für die Covid-Forschung. Um besser zu verstehen, wie sich Tröpfchen mit Erregern in der Luft bewegen und verbreiten, entwickelte das Team eine «Hustmaschine». Wie aus Lungenflügeln leiten zwei Schläuche Druckluft aus einem «Mund»; mit relativer Feuchtigkeit und Temperatur wie von einem Menschen. Zwei Kameras erfassen im Windkanal, wie die Tröpfchen sich bewegen. Mittels winziger Partikel, die Luftbewegungen sichtbar machen, lassen sich so genauere Modelle entwickeln, wie Viren sich real verbreiten.

Neuland für Lunati und sein Team, das auf anderen Gebieten umso mehr Erfahrung hat. Sein langjähriges Steckenpferd sind poröse Medien. Und die Frage: Wie lässt sich mathematisch modellieren, welche Stoffe sich darin wie verhalten? Ein Bild auf der Homepage der Forschungsabteilung illustriert, wie verzwickt das ist: Was wie ein Gewirr aus farbigen Wurmröhren erscheint, zeigt die Form von Luft, die in einen löchrigen Sandstein mit winzigen Poren dringt, erklärt der Physiker mit einem Fingerzeig – und dabei Wasser verdrängt, das zuvor dort war.

Komplexe Einsichten mit praktischem Wert: Schon vor Jahren half Lunati, solche Kenntnisse für Grundwasser, die Lagerung von radioaktiven Abfällen, Erdölvorkommen oder Umweltprobleme nutzbar zu machen. «Firmen investieren viel in numerische Methoden», sagt der Physiker, «man muss beschreiben können, wie sich Wasser, Öl oder Gas im Reservoir im Untergrund bewegen – von der kleinsten Pore im Gestein bis in den Massstab von Kilometern.» Solche Einsichten könnten auch in Zukunft beim Klimaschutz dabei helfen, CO2 aus der Atmosphäre sicher in der Tiefe zu lagern.

Seit rund 20 Jahren befasst sich der Physiker mit der «Multiskalen-Modellierung», wie man dieses Fachgebiet nennt, an dem Forschergruppen in aller Welt arbeiten: Simulationen vom Kleinsten bis zum Grossen – zum Beispiel vom Quanten-Massstab über atomare und molekulare Bindungen bis hin zur Struktur, die für das Auge sichtbar ist. Auch für neue Werkstoffe könnten derartige Modelle nützlich sein. Beispiel Aerogele: Die extrem porösen Materialien sollen in Zukunft dazu dienen, CO2-Moleküle aus der Atmosphäre zu binden. Bei der Frage, wie ein Aerogel dazu im Detail manipuliert werden muss, wird sich Lunatis Team mit Fachleuten in anderen Empa-Abteilungen vernetzen.

Themen vermitteln und vernetzen
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Im Windkanal mit Claudio Mucignat (li.) und Hossein Gorji. Bild : Empa

Poröse Medien als Hoffnungsträger? Für Laien scheinbar kaum vermittelbar, doch Lunati hat es einst auch Kindern nähergebracht – an einem Tag der offenen Tür an der Universität Lausanne. Am Beispiel von Trinkwassergewinnung, erzählt er mit verschmitztem Lächeln, «habe ich mit Sand, Wasser und porösem Material gespielt, aus einem 3D-Drucker. Einfach, um die Kinder zu stimulieren, sich ein bisschen mit Forschung zu beschäftigen».

Komplexes «greifbar» zu machen, macht ihm spürbar Freude – und ist keineswegs ein Widerspruch zu seinem Selbstverständnis. «Ich bin eine theoretische Person», sagt Lunati zwar, «Theorie ist mir wichtig.» Doch das soll nicht bedeuten, dass er den Blick auf die Praxis vernachlässigt – im Gegenteil: «Wenn ich an den Grundlage für neue Modelle arbeite, dann können die später auch von anderen Leuten gebraucht werden – in den verschiedensten Bereichen.»

Diese Hoffnung hegt er auch bei anderen Themen. Beispiel «Embodied maschine learning»: Intelligente Drohnen mit Messsensoren, an denen Empa-Spezialisten arbeiten, könnten mit neuen Algorithmen lernen, schon im Einsatz bei der Datenerfassung auf ihre Umwelt zu reagieren. Beispiel Covid-Verbreitung: Statt üblicher Rechenmodelle, die Verbreitung von Covid-Viren anhand von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen simulieren, könnten künftige Modelle auf Datenbasis sogar einzelne Personen miteinander vernetzen.

Lunati greift zu einem Ausdruck auf dem Bürotisch: unter einer Karte der Schweiz ein kreisförmiges Netz aus zahllosen, schwarzen Flecken, verbunden mit blassen Strichen. «Diese Punkte könnten Personen beschreiben und all die Linien ihre Kontakte», erklärt er. So ein Netzwerk entsteht nicht aus «klassischer» Statistik, sondern aus Datenanalysen, deren Verknüpfungen vergleichbare Resultate liefern. Doch zugleich könnten solche Verfahren auch unbekannte Interaktionen offenlegen – neue Einsichten also, mit denen sich wiederum herkömmliche Modelle verfeinern liessen.

Intuition als Forschertugend
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Hossein Gorji und Ivan Lunati entwickeln Szenarien zur Covid-Verbreitung. Bild: Empa

Wenn der Modellierer erzählt, spürt man seine Begeisterung für Ideen … – die «Denkwand» in seinem Büro wird kaum je unbeschrieben sein. Wie auch die klassisch-schwarze «Schultafel» in der lichten Gemeinschaftshalle seiner Abteilung: übersät mit mathematischen Formeln – davor ein langer Tisch für Diskussionen im Team. Schliesslich will Lunati auch eine Denkweise vermitteln: eine gewisse Intuition, um zu vereinfachen und nicht in Datenmassen zu ertrinken – nicht nur irgendeine Formel finden, sondern eine schlichte und, ja, auch schöne Lösung.

«In diesem Sinne bin ich schon ein altmodischer Wissenschaftler», gesteht er, «ich möchte die Welt beschreiben.» Komplexes reduzieren – für Lösungen und Ideen, die sich dann für eine Vielzahl von Fragen verwenden lassen. So wünscht er sich auch seine Abteilung: vielfältig, doch zugleich so fokussiert, dass man ihre Arbeit in einem Satz zusammenfassen kann. Und ja: Sie soll noch wachsen. «Auf einem Hundert-Meter-Sprint wären wir jetzt bei 50 Metern», sagt er, «aber eigentlich ist es ja ein Marathon.»

Further information
Dr. Ivan Lunati
Laboratory for Multiscale Studies in Building Physics
Phone: +41 58 765 4111
ivan.lunati@empa.ch

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