16. Wissenschaftsapéro

Mein Auto denkt mit – Pervasive Computing im Alltag

Mar 4, 2004 | REMIGIUS NIDERÖST
Die Durchdringung der Alltagswelt mit drahtlos vernetzten und kaum sichtbaren Computern, «Pervasive Computing» genannt, ist heute noch eine Vision. Doch wie lange noch? Schon heute werden viele Funktionen alltäglich benutzter Gegenstände durch Computer gesteuert, z.B. in Autos. Am 16. Wissenschaftsapéro berichteten drei Referenten über bereits realisierte Entwicklungen, über Zukunftsvisionen und auch über Chancen und Risiken dieses Trends.
https://www.empa.ch/documents/56164/314421/a592-2004-03-04-b1x_pervasive.jpg/429c385b-a04e-4120-a247-0adc60d7e3c6?t=1448300973000
Der allgegenwärtige Einsatz von Computern hat nicht nur Vorteile. Elektronikabfall ist schon heute zu einem weltweiten Problem herangewachsen. (Bild Thomas Weibel)
 

Der Trend zu immer mehr Computern hält an. Diese werden nicht nur immer billiger und leistungsfähiger, ihre Prozessoren werden auch immer kleiner und verstecken sich zunehmend in Alltagsgegenständen. Wenn dies so weiter geht, wird es in 25 Jahren den «Computer-Staub» geben, so die Vision des ersten Referenten am Wissenschaftsapéro, Prof. Dr. Friedemann Mattern, vom Institut für Pervasive Computing der ETH Zürich. Schon bald nämlich werden sich Prozessoren massenhaft in mikroskopischer Grösse herstellen lassen. Sie werden miteinander über Funk kommunizieren und Sensoren enthalten zur Erfassung ihrer Umwelt. Unsichtbar in gewöhnlichen Dingen eingebaut, machen sie diese «schlau»: Sie tauschen untereinander Informationen aus und wissen sogar, wo sie sich gerade befinden. Doch wie «smart» dürfen Gegenstände werden? Eine Technologie mit überall versteckten Computern kann dramatische Folgen haben: Abhängigkeit entsteht, die Privatsphäre leidet, der Stromverbrauch steigt, die Entsorgung wird zum Problem.

Das Auto «denkt» schon heute mit
Am Beispiel des Autos lässt sich sehr gut verdeutlichen, wie Pervasive Computing fast unbemerkt Einzug gehalten hat in einen unserer Gegenstände für den alltäglichen Gebrauch. Dr. Reinhold Eberhardt von der DaimlerChrysler Telematikforschung in Ulm zeigte dies sehr eindrücklich. In den Autos der Premiumklasse sind heute schon bis zu siebzig Computer-Steuerelemente verbaut, die miteinander vernetzt sind und miteinander kommunizieren. Angefangen hat die Entwicklung beim Auto in den 70er-Jahren mit der computergesteuerten Benzin-Einspritzung. Weiter ging es dann mit der elektronischen Diagnose, mit dem Anti-Blockiersystem ABS. Heute helfen ASR, ESP, Regensensor, Parkhilfe usw. beim Fahren. Klimaanlage, Telefon, Lautstärkeregelung etc. verbessern den Komfort. Auch die Internetnutzung ist im Fahrzeug möglich. So können Informationen über den Strassenzustand, die Verkehrslage, für die Routenplanung und über die Wetterlage abgerufen werden. In Zukunft wird die Anbindung ans Internet vermehrt noch für die Ferndiagnose genutzt werden. Der finanzielle Aufwand für die im Auto verbaute Software und Hardware kann durchaus bis zu 40 Prozent des Fahrzeugpreises ausmachen.
Kommunikationsbasierte Systeme werden in einigen Jahren für mehr Sicherheit im Strassenverkehr sorgen. Ein ausgelöster Airbag könnte z.B. die nachfolgenden Fahrzeuge warnen. Pervasive Computing macht im Fahrzeugbau durchaus Sinn, steht es doch im Dienst der Sicherheit. So verringerten sich die «Selbstunfälle» gemäss Eberhardt beträchtlich, seit das Stabilitätsprogramm ESP (Stichwort «Elchtest») praktisch in allen Neuwagen eingebaut wird.

Die schlechte Prognose hat Vorrang
Prof. Dr. Lorenz Hilty von der Empa präsentierte eine von seiner Abteilung in Zusammenarbeit mit «TA-Swiss» erstellte Studie zum Thema Pervasive Computing. Er erläuterte Chancen und Risiken des Pervasive Computing anhand von Beispielen aus den Lebensbereichen «Wohnen», «Arbeit» und «Gesundheit». Für Hilty gilt es, bei der Risikoabschätzung immer das Vorsorgeprinzip (Vorrang der schlechtesten Prognose) und die Nachhaltigkeit zu beachten.
Im Wohnbereich verspricht der allgegenwärtige Einsatz von Computern im «Smart Home» eine beträchtliche Energieeinsparung. So heizt die Wohnung erst auf, wenn die BewohnerInnen heimkommen. Bei der Hausarbeit kann ein Kühlschrank, der Menüvorschläge aufgrund seines Inhalts macht, die Hausarbeit erleichtern und dank Telearbeit wachsen Arbeitsplatz und Heim zusammen. Auf der anderen Seite ergeben sich Kompatibilitätsprobleme, die noch ungelöst sind, es könnte ein Zwang zu Ersatzinvestitionen entstehen, wenn ein Hersteller marktbeherrschend wäre.
Bei der Arbeit stehen Rationalisierung, Flexibilisierung, Ortsunabhängigkeit, höhere Produktivität und weniger Verkehr in Aussicht. Andererseits drohen höhere Anforderungen und Leistungserwartungen. Paradox scheint, dass durch die Ortsunabhängigkeit der Verkehr unter Umständen sogar zunimmt statt abnimmt. Dieser Rebound-Effekt kann entstehen, wenn die Arbeit im noch entfernteren Ferienhaus statt am Arbeitsplatz oder zuhause erledigt wird.
«Health Monitoring», die ständige Überwachung des Gesundheitszustandes einer Person, kann etwas Positives sein. Chronisch Kranke erhalten damit mehr Autonomie, ÄrztInnen erhalten bessere Gesundheitsdaten und eine schnellere Rettung wird möglich. Aber bedeutet es nicht auch eine Entmündigung der PatientInnen? Wie steht es mit dem Datenschutz?
Die Auswirkungen des Pervasive Computing auf die Umwelt sind nicht generell positiv. Elektronikabfall ist bereits heute zu einem weltweiten Problem herangewachsen. Durch die Verkleinerung der schadstoffhaltigen Chips und die starke Zunahme ihrer Zahl wird es immer schwieriger, diese von anderem Abfall oder verwertbaren Materialien zu trennen und geordnet zu entsorgen.
Nach jedem Vortrag ergab sich Gelegenheit zu einigen Fragen, was rege benutzt wurde. So interessierte es die Anwesenden etwa, ob die miteinander kommunizierenden Systeme das Problem des Elektrosmog noch verstärken werden. Eine Frage, die verneint wurde. Denn die Dichte der Sender und Empfänger lässt geringere Sendestärken zu als z.B. die heutigen Antennen der Handys und Mobiltelefonanbieter.

Was ist der Wissenschaftsapéro?
An den regelmässig stattfindenden Wissenschaftapéros greift die Empa-Akademie fachlich und gesellschaftlich relevante Fragestellungen auf. Jeweils drei bis vier ReferentInnen aus Forschung, Politik und Wirtschaft präsentieren in ihren Vorträgen Ergebnisse und Absichten zu dem behandelten Thema. Anschliessend stehen sie auch den nicht mit dem Fach vertrauten Gästen entweder in der Diskussionsrunde oder beim Apéro Rede und Antwort.
Der nächste Wissenschaftsapéro findet statt am 26. April 2004 zum Thema «Auf den Zahn gefühlt: Materialforschung an dentalen Implantaten». Ort: Empa, Dübendorf, Zeit: 16.30. Es ist keine Anmeldung erforderlich.

Rémy Nideröst

 
 
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